»Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut.«

THEATERmobileSpiele zeigt das Dramenfragment „Woyzeck“ an der Wilhelm-Schickard-Schule in Tübingen

Was bringt einen Menschen dazu, einen geliebten Menschen umzubringen? Kann die Gesellschaft einen in den Wahnsinn treiben? Hat jeder Mensch die Chance, einen selbstbestimmten Weg zu gehen? Wie geht man mit psychischen Krankheiten um?

Mit diesen und vielen anderen Fragen setzen sich seit einigen Wochen die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 1 der Wilhelm-Schickard-Schule in Tübingen während des Deutsch-Unterrichts auseinander. Die neue Abitur-Pflichtlektüre „Woyzeck“ von Georg Büchner aus dem Jahr 1879 hat nichts an Aktualität verloren und stellt die Jugendlichen vor existenzielle Fragen des menschlichen Seins.

Der einfache Soldat, Franz Woyzeck, der mehrere Arbeiten ausüben muss, um sich und seine Freundin Marie, mit der er ein uneheliches Kind hat, ernähren zu können, wird von der Gesellschaft gedemütigt, entmenschlicht und bewusst krank gemacht, bis er halluziniert und Stimmen hört. Als ihn seine Freundin mit einem ranghöheren Soldaten betrügt, ersticht Woyzeck die Mutter seines Kindes.

Am Montag, den 5. Dezember 2022, tauchten 64 SchülerInnen und Schüler und drei Lehrkräfte in die Welt des 19. Jahrhunderts und die seelischen Qualen des Protagonisten ein. Nach zahlreichen Planungstelefonaten zwischen Theaterregisseur Thorsten Kreilos und Deutschlehrer Federico Sirna schickte das in Karlsruhe ansässige THEATERmobileSPIELE den professionellen Schauspieler Rouven Honnef, welcher mit den Schülerinnen und Schülern sein mit Dachbox beladenes Auto auslud, die Bühne im Klassenzimmer aufbaute und 70 Minuten lang gemeinsam mit seinen Handpuppen einen Blick in die Abgründe des Menschen bot. Dabei stellte er alleine alle handelnden Figuren des Stücks und in erster Linie den körperlichen und psychischen Verfall des Protagonisten dar. Seine tiefe Verzweiflung, seine grenzenlose Wut und seine entsetzlichen Hilfeschreie konnten die Jugendlichen hautnah aus nächster Nähe miterleben und mitfühlen.

Im Anschluss an das Stück hatten die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit, dem Schauspieler Fragen zu stellen, welche auch fast endlos genutzt wurde:

„Warum steht da ein Zaun um die Bühne? Ist es Absicht, dass die Figuren am Ende des Stücks auf Woyzeck hinabschauen? Haben Sie sich in der Vorbereitung mit psychisch kranken Menschen unterhalten, um sich besser in die Figur hineinfühlen zu können? Finden Sie, dass Woyzeck Schuld an dem Mord an seiner Freundin hat, und welche Rolle spielt die Gesellschaft?“

Innerhalb von 20 Minuten war dann unter tatkräftiger Mithilfe der Jugendlichen die Bühne wieder abgebaut, alle Requisiten im Auto verpackt und Rouven Honnef auf dem Weg zu seiner nächsten Aufführung am Folgetag in Singen. Im mittlerweile dunklen Schulhaus und in den Köpfen der Schülerinnen und Schülern klangen die letzten Stimmen der gefühlskalten Gerichtsdiener nach, die repräsentativ für eine Gesellschaft stehen, in der ein einzelnes Menschenleben keinerlei Wert hat: »Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön, als man nur verlangen tun kann, wir haben schon lange so kein gehabt!«